Was mich immer wieder erstaunt, ist die Nähe der Menschen, völliger Unbekannter, die ich beim Pilgern erfahre. In den seltensten Fällen werden Smalltalk betrieben oder Oberflächlichkeiten feilgeboten. Die Beiz, die abgebrannt ist, was das für die Familie bedeutet. Oder der Ertragswert des Hofes, die menschliche Tragödie, die dahintersteckt, wenn die im Pensionsalter stehenden Eltern bereit waren zur Übergabe an den ältesten Sohn, alle Verträge gezeichnet, und dann erkrankt dieser an MS, was einen landwirtschaftlichen Beruf nahezu ausschliesst. Der Streit mit Schwager oder Schwägerin, die Distanzierung der eigenen Kinder. Der Streit mit der Denkmalpflege, die viel will und nichts bietet. Die junge Mutter in der Kebab-Bude mit ihrer kleinen Tochter, die vom Vater ohne etwas sitzen gelassen wurde und ihrem Kind eine Pizza versprochen hat. Kaum sitzen wir zusammen, wird erzählt, aus dem Innersten heraus. Ob alt oder jung, Frau oder Mann spielt keine Rolle. Es scheint ein Bedürfnis zu sein, sich mitzuteilen, aus dem Innersten heraus. Einem Fremden, den man wohl kaum je mehr sehen wird. Vielleicht löst ja diese wunderbare Anonymität das Herz und die Zunge. Und ich glaube, meinem Gegenüber tut’s mächtig gut.
Ich höre gerne zu. Was sollte ich den anderes tun in diesen vollen und doch so leeren Tagen? Bin ich nur auf dem Weg, um Kilometer abzuspulen und Pilgerstempel zu sammeln? Bin ich nicht auf den Weg der Begegnungen, der Spiegelung meiner selbst im Anderen? Des Zusammenkommens? Um Menschen zu treffen, ihnen in den Augen abzulesen, was sie freut und was sie bedrückt? Mich mitzuteilen, sofern Platz dafür ist, und unabhängig davon meine Freuden, meine Trauer wieder kennenzulernen, bei anderen, in anderer Gestalt, aber immer derselben Substanz. Es sind intuitive Begegnungen ohne jegliche Struktur, Analyse oder Wertschätzung. Es folgen keine Rechnung und es wird nicht Bilanz gezogen. Etwas steht da, wo vorher nichts stand. Dann ein Händedruck, ein Ciao, ein Lächeln. Aber in den wenigen Minuten kann man sich unendlich nahe kommen. Es ist wie ein Wunder. Und ich frage mich: Warum hier, jetzt, und nicht immer? Was sollen alle Fassaden und Masken im morschen gesellschaftlichen Alltags-Karussell, wo die Musik falsch klingt und der Antrieb rattert? Was leitet uns in die Irre, und erst noch oft mit grossem Selbstbewusstsein, was narrt uns? Vielleicht, nur ein leiser Gedanke, vielleicht liegt es darin, dass Pilger, die mit dem eigenen Gepäck reisen, wenig bei sich haben, die schmerzenden Füsse und Muskeln, die Anstrengung, sie zur Bescheidenheit erziehen? Ist es solche Bescheidenheit, die ausstrahlt und Menschen nicht einschüchtert, sondern öffnet?