Im Prinzip ist der ganze Weg bis nach Rom gut signalisiert. Nur von Rothrist nach Huttwil musste ich ein bisschen improvisieren und die Wanderwege aussuchen. Danach ist der Jakobsweg nach Lausanne praktisch narrensicher angezeigt, und ab Lausanne ist die Via Francigena meistens gut bis sehr gut gekennzeichnet. Zudem gibt es eine App von Eurovia, die den ganzen Weg in mehr oder weniger sinnvolle Etappen segmentiert und bei jeder Abzweigung die Richtung weist. Da sind auch einige Unterkünfte drauf und sehr knappe Etappenbeschreibungen. So kommt man ohne grösseres Kopfzerbrechen nach Rom. Pilgerführer sind sinnvoll für allfällige zusätzliche Informationen wie Steigungen und Neigungen, Wegbeschaffenheit, Wasserstellen und gegebenenfalls Einkehrmöglichkeiten, die sich nicht auf der App finden lassen. So kann man sich besser orientieren und die Strecken definieren. Wer den Wegweisern folgt, kann kaum irren.
Manchmal sind die Wegweiser allerdings weniger gut zu lesen, oder versteckt, oder unterschiedlich interpretierbar, manchmal fehlen sie schlicht, und die App findet gerade in solchen Momenten nach Murphy’s Gesetz meistens auch kein Netz. Dann heisst es, genau zu überlegen und vielleicht nochmals hinzuschauen, um die Richtung ohne Umwege zu finden. Manchmal möchte man jedoch genau das tun – den einen oder anderen Ausreisser machen, etwas Besonderes anschauen, oder den Weg auf anderen Strassen abkürzen. Dann verlieren die Signale ihre Bedeutung, und man ist auf sich selber gestellt. Ich habe mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass dies seinen Preis hat. Entweder muss man auf stark befahrenen Strassen gehen, die zwar den Weg zum Ziel verkürzen, aber das Leben gefährden. Oder man verlängert den Weg zum Ziel bei den Ausreissern, und dann kann’s lange dauern, bis man ihn wiedergefunden hat. So habe ich gelernt, die Wegweiser sehr ernst zu nehmen und nicht ohne guten Grund zu missachten. Dasselbe gilt für die Signale des Wetterbotens oder die Hinweise in Bezug auf die Bodenbeschaffenheit.
Mittlerweile bin ich der festen Überzeugung, dass es im Leben nicht anders ist. Es gibt zwar keine Wegweiser, die gleichermassen ins Auge springen, und auch keine App, die die richtigen Weg-Entscheidungen aufzeigt, aber es gibt viele Signale, die uns begleiten und den Weg durchs Leben weisen. Ratschläge und Empfehlungen sind die einfachsten. Denken, überlegen, alles abwägen, kleine wegweisende Erfahrungen interpretieren, das ist schon um einiges schwieriger. Diese zu nutzen erfordert etwas mehr Sensibilität, als die visuellen Wegweiser zu erkennen und ihnen zu folgen. Es bleibt aber ein «Sich Anvertrauen». Die Signale für den Lebensweg zu lesen erfordert vor allem genügend Flexibilität, das Leben zu nehmen, wie es ist und es nicht mit Gewalt nach dem eigenen Willen gestalten zu wollen. Im Wesentlichen geht es darum, sich als Ego zurückzuhalten und den Signalen des Lebens eine Chance zu geben, uns zu führen. Wer sich so auf den Weg begibt, irrt weniger auf gefährlichen Strassen, verliert sich weniger in den Wäldern, Feldern, Fluren oder Städten. Die Pilger, die das können, kommen heiterer und weniger belastet an. Denn – sind wir letzten Endes nicht alle Pilgerinnen und Pilger im Leben? Die anderen, nun, manchmal kommen sie an, manchmal verfehlen sie ihr Ziel, in jedem Fall aber sind sie um eine harte Erfahrung reicher und oft hundemüde davon.
Ich habe da schon andere Worte dafür gelesen und gehört – den «Swing», die Harmonie, die Einheit mit dem Ganzen. Das alles lässt sich finden und verlieren. Der grösste Feind ist das Bild im Kopf, das man par force realisieren will, ungeachtet der Umstände und der Signale, die zu lesen sind. Ist es über 30 Grad heiss, sind 40 Kilometer Strecken nicht zu gehen. Ist der Weg mit grobem Schotter belegt, verringert sich die Geschwindigkeit deutlich. Regnet es in Strömen, oder ist es sonders kalt, hat es Verpflegungsmöglichkeiten, oder muss man alles mitnehmen… unter all diesen Umständen sind die Möglichkeiten reduziert und man muss die eigenen Pläne anpassen. Es nützt nichts, in solchen Situationen an überzogenen Zielen festzuhalten.
Was die kleinen Signale betrifft, die auf das Gelingen, das Misslingen bestimmter Initiativen hinweisen, ist sein Eigenes. Ich denke mal zurück, vor fünf Jahren, als ich auf dem Jakobsweg durch Frankreich pilgerte. Ich meine, es war um Moissac herum, es könnte aber ebenso eine nahe liegende Etappenstadt sein. Ich hatte da schon eine recht lange Etappe geplant und wollte Mitte Nachmittag die Pilgerherberge im Stadtzentrum ansteuern. Nicht weit von der Stadt, ich befand mich auf einem Waldweg, nahm ich auf einmal wahr, dass keine Jakobsweg-Wegweiser mehr zu sehen waren. Anstatt mich selber zu hinterfragen, ging ich stur weiter in der Überzeugung, dass die örtliche Organisation bei der Signalisierung gespart hatte. Eine App hatte ich nicht. Erst nach mehr als zwei Kilometern ohne Signale fragte ich einen vorbeifahrenden Bauer, der mich belächelte und sagte, ich sei in die falsche Richtung gegangen. So musste ich dann doch umkehren. Damit waren schon vier Kilometer mehr auf dem Sohlen-Tacho. Beim ersten Jakobsweg-Signal, das ich dann gesehen habe, habe ich gar nicht richtig hingeschaut – ich bin nur der angezeigten Richtung gefolgt, um wieder nach einigen Kilometern zu merken, dass ich die Abzweigung zum Ziel verpasst hatte und auf einen Umgehungsweg geraten war. Mittlerweile war es schon 18 Uhr, und, wie ich später nachrechnete, hatte ich an diesem Tag 47 Kilometer zurückgelegt.
Ich war da völlig entkräftet, hungrig und durstig und wollte schon bei irgendeinem der Häuser anklopfen, um ein Taxi zu bestellen, das mich in das nach wie vor kilometerweit entfernte Städtchen führen würde, als ein Bub ein handgeschriebenes Plakat vor ein Haustor stellte: «Accueil Pélerins». Es kam mir vor wie eine Gabe des Himmels. Eine portugiesische Familie hatte die kleine Pilgerunterkunft gerade zu dem Zeitpunkt eröffnet, als ich vorbeikam. Eigentlich hatten sie nur Bed&Breakfast im Programm, aber als sie meine Enttäuschung sahen, auch noch ohne Abendessen ins Bett zu müssen, verpflegten sie mich mehr als königlich. Den Gewaltsmarsch spürte ich noch drei, vier Tage in den Knochen. Die Lehre aber hat sich fest in mein Bewusstsein gegraben: Erstens: Achte auf die Signale. Und zweitens: Verzweifle nicht, manchmal passiert wirklich das nach logischen Gesichtspunkten Unwahrscheinlichste, wie die Eröffnung einer neuen Pilgerunterkunft abends nach 18 Uhr mit einem handgeschriebenen Plakat, das ein Bub vors Tor stellt.