Wir sind heute in Campagnano di Roma angekommen. Ein karges Nest, in dem es auf und ab geht und man sich die Fitness von Kindsbeinen an erarbeitet. Nach der Marschtabelle in guter Zeit, etwa um halb zwei nachmittags, knapp vor dem Gewitter, das sich schon in den Vortagen abgezeichnet hatte. In der letzten halben Stunde hat uns Donnergrollen begleitet, aber der Sturm hat erst noch Kräfte gesammelt. So waren wir unter einem guten Dach, als der Regen eingesetzt hat. In unserer Region eher schwach. Die durstige Erde wird noch länger aufs Wasser warten müssen. Nochmals ohne Regenschutz durchgekommen! Das Grüppchen hat sich mittlerweile auf Willy, Lia und mich reduziert. Pier-Luigi musste uns am Wochenende sichtlich betrübt verlassen. Eigentlich haben wir ihn zurückgelassen – er wäre gern mit uns weitergegangen, aber die Familie ruft und er musste nach Hause. So wird er die Francigena nächstes Jahr abschliessen. Um Abschied zu nehmen hat er auch an seinem letzten Tag im selben Zimmer mit uns und zwei Etagenbetten geschlafen, ist ohne Notwendigkeit (sein Zug fuhr am späten Morgen) um fünf Uhr aufgestanden und hat es sich nicht nehmen lassen, uns in aller Frühe mit umfangreichen Umarmungen zu verabschieden. Schön war’s allemal.
«Wir» heisst auch nicht, dass wir ständig miteinander gehen. Gemeinsam ist das Aufwachen. Ich bin der Weckmeister. Mein Handy ist mittlerweile auf fünf Uhr gestellt. Die Sonne geht später auf, die Sonnenwende ist deutlich zu spüren. Bis halb sechs ist nichts mit dem Erkennen der Wegmarkierungen. Besser zuwarten als in die falsche Richtung zu düsen. Also machen wir uns bereit, stellen, sofern es die Möglichkeit gibt, eine Kaffeekanne auf und trinken den Zmorgekaffi oder geniessen die Gastfreundschaft unserer Herbergswirte. Nonnen und Mönche sind ebenso früh auf, auch andere kirchennahe Vereine mit ihren Freiwilligen vor Ort bieten eine wirklich offene und unbelastete Hand. Man fühlt sich zumeist gerne aufgenommen und begleitet, was den Zauber des Pilgerwegs ausmacht und uns über die eine oder andere unangenehme Erfahrung entlang einer der Staats- oder Provinzstrassen mit deppert segelnden Schlachtschiffen in SUV-Gestalt oder rollende Riesentanker wie Lastwagen und Cars im Wettrennen um ein paar Minuten Zeitgewinn hinwegtröstet. Zumeist führt der Weg aber dann doch über einsame Erdstrassen und Pfade.
Beim Aufwachen und Loslegen ist Willy der schnellste von allen. Er ist der erste im Bad, der erste mit seuberen Zähnen, der erste, der angezogen ist, der erste, der seinen Kaffee getrunken und eine Frucht gegessen hat, und der erste, der dann loszieht, diszipliniert wie ein Schweizergardist. Lia und ich nehmen es etwas gemütlicher, meistens folgen wir Willy nach einer Viertelstunde. Wir sind zwar auch schnell wach – von Rumdösen ist keine Rede – aber es geht bei uns doch alles etwas langsamer. Wohl die italienische Gemütlichkeit. Wir nehmen auch den Weg etwas lockerer unter die Füsse und machen längere Pausen. So ist Willy meistens eine Stunde vor uns am Ziel und hat sein erstes kühles Bier genossen, wenn wir verschwitzt auftauchen.
Dann wiederum zischt Lia ab, um irgendwo Mispeln zu essen oder wilde Pflaumen. Oder sie bleibt zurück, ausgestattet mit einer grossen Jutetasche und sammelt weggeworfene Plastikflaschen am Weg. Ich gehe meistens gemütlich, Lia meint, wie ein Metronom. Jedenfalls finden wir am Ziel zusammen, essen was, oder kaufen ein und essen in der Pilgerherberge, was viel gemütlicher ist als im Restaurant. Ganz aktuell: Nach dem Einnisten in der Pilgerherberge sind jetzt Willy und Lia losgezogen und trinken ihr Bier: Er, eins einundneunzig gross, ein oder zwei entsprechend grosse, sie, einsneunundfünfzig, ein, zwei kleine, während ich an diesem Blogbeitrag schreibe und mich mit Hahnenwasser begnüge. Abends essen wir dann gemeinsam, bevor wir gegen neun Uhr in der Herberge unterkommen und uns auf den Fünf-Uhr-Wecker gefasst machen.
Aufwachen heisst aber viel mehr. Wer einmal einen solch langen Pilgerweg gegangen ist, und das ist jeder von uns dreien, nicht anders als viele andere, die uns begegnen, entdeckt das Leben neu. Viele gehen deswegen immer wieder auf Achse, suchen diese Intensität in der Auseinandersetzung mit dem Wesentlichen. Wir alle, auch viele weitere Pilgerinnen und Pilger, denen ich begegne, Schweden, Kanadier, Australier, Italiener, Franzosen, Koreaner, Menschen aus aller Herren Länder, bezeugen dasselbe: Der Weg hat sie bleibend verändert. Nicht nur, dass Pilgerinnen und Pilger behaupten, das Wesentliche besser zu erkennen und anzunehmen, und es vom Unwesentlichen unterscheiden zu können: Sie erkennen, dass ein Schritt nach dem andern sehr weit führen kann, ohne Eile, aber mit Beharrlichkeit: So lassen sich auch anspruchsvolle Ziele erreichen. Schmerzen lassen sich überwinden, Freundschaften, enge Freundschaften, schliessen. Als Pilger (und ich möchte andere Erfahrungswelten nicht ausschliessen) sieht wie die eigenen Wurzeln wachsen, reicher, fester und noch tragender werden, man findet mehr Boden, ja, lebt die eigene Persönlichkeit noch besser, direkter, intensiver. Eine junge schwedische Mutter teilt diese Erfahrung mit ihrem Sohn in den Zwanzigern. Zwei Freunde aus Arezzo sind miteinander unterwegs, zeitgleich mit uns auf den selben Etappen.
Für uns endet die Francigena voraussichtlich in zwei Tagen. Morgen ist La Storta das Ziel, übermorgen der Petersplatz. Rund dreiundvierzig Kilometer sind es noch bis dahin. Aber ich glaube kaum, dass es das Ende sein wird. Aufwachen ist ein Prozess, kein Ereignis.